Kieler Nachrrichten vom 20. Februar 2006 - Kultur

Von Liebe und Fremdheit
Spannende Premiere am Schauspielhaus:Zaimoglu/Senkel erneuern Shakespeares „Romeo und Julia“
Von Ruth Bender

Kiel - Sie sind unendlich Projektionsfläche und seit Ihrer Erfindung 1597 in vielen Milieus wiederauferstanden: Romeo und Julia. Für das Kieler Schauspiel haben Feridun Zaimoglu und Günter Senkel Shakespeares ewiges Liebespaar einem Sippenstreit zwischen Muslimen und Christen
Ausgesetzt. Eine spannende Interpretation,die das Premierenpublikum in der Inszenierung von Dedi Baron anhaltend feiert.

Romeos blumige Beteuerung findet Julia eher erstaunlich. Die reizen sie höchstens zum Widerspruch. „Du bist in meinem Herzen…“ schwärmt er und sie sagt trocken: „Nein, ich bin hier oben. Du musst dir nicht an die Brust fassen.“ Er malt ihr zum Geschenk mit dem Mond Silbertupfen in die nächtlichen Baumkronen; sie erklärt ihm, dass die Bäume ihrem Vater und der Mond sowieso niemandem gehöre. Sie sprechen verschiedene Sprachen, die zwei, die da auf der Party bei den Capulets erst Blicke tauschen und sich dann vor dem Haus neugierig bestaunen. Aber das ist ja gerade das Aufregend: Julia, die Pragmatikerin, die Klarheit will und die Wahrheit. Und Romeo, der Träumer, der seine Liebe in verschlungenen Worten verzwirbelt.
Die alte Geschichte erzählen Zaimoglu/Senkel ganz neu und trotzdem scheint stets Shakespeares Originalklang durch. Natürlich haben die jungen Liebenden, die im Streit der Montagues und Capulets aufgerieben werden, auch hier ihre gar nicht kompatiblen Geschichten: Julia, die behütete Tochter aus wohlhabendem Hause mit vage christlicher Sozialisation. Romeo, der Türke, der in islamischen Glaubensregeln zwar nicht ganz firm, aber eben doch verwurzelt ist. Daraus wird kein Überzeugungsstreit, denn religiöse Prägungen spielen kaum eine Rolle. Aber sie haben Spuren hinterlassen, im Alltag und in der Sprache. Und so wird der brutale Sippenkonflikt zum (inter)kulturellen Kommunikationsproblem.
Das spiegelt der Text von Zaimoglu/Senkel auf allen Beziehungsebenen. Und die Sprache knallt in der Inszenierung von Dedi Baron ganz unmittelbar von der Bühne herunter – in allen Facetten von komisch bis tödlich. Wenn Mercutio den türkischen Freunden Benvolio und Romeo wütend deren Angepasstheit vorhält: „Ihr lebt ja schon so lange unter uns…“ Wenn nicht mal die Eltern Capulet eine gemeinsame Sprache haben. Wenn der Hodscha (Imanuel Humm), hier anstelle von Pater Lorenzo Romeos Berater, schlafmützig-feinsinnig fragt, ob die Liebe zwischen Mann und Frau wohl die Fremdheit überstehe, und Agnes Richter frech-bodenständige Zofe das Fremde plötzlich als Reiz entdeckt. Und mitten im Kommunikations-Wooling haben Romeo und Julia ihren Spaß daran, sich in ihre Gegensätzlichkeit zu entdecken. Marko Gebbert ungestüm und immer ein bisschen über dem Boden schwebend, Luisa Taraz als scharfzüngige Trotzgöre, Erdenwesen mit Flugambitionen.
Regisseurin Dedi Baron, in Israel mehrfach preisgekrönte Regisseurin, lässt die Vielfalt der Sprache Raum auf der Bühne, die selten so grenzenlos wirkte wie in der kühlen Gestaltung durch Hans-Jörg Hartung. Ein schweres Portal, darunter ein heller Glaskasten für die Capulets, wie ausgesetzt im diffusen Dunkel der Welt: Goldener Käfig, Schutzraum, Penthouse – und schließlich, da die verbotene Liebe einen Tod nach dem nächsten provoziert, auch Schrein.
Auf dem Dach lassen sich die schönsten Balkonszenen inszenieren; das Innere zoomt heran bis zur Unkenntlichkeit oder wird entrückt in überschaubarere Fernen. So klar sind die Grenzen eben auch wieder nicht zwischen den streitenden Parteien. Davor fährt der Hodscha aus der Tiefe des Bühnenbodens wie ein komischer Flaschengeist, haben Mercutio, Tybalt und die anderen Streithähne ihren Auslauf. Das sichtlich motivierte Ensemble aber hält die Regisseurin zur Ökonomie der Mittel an, und in der Kühle wirken die Streetstyle-Rüpeleien von Mercutio (Stefan W. Wang) und Benvolio (David Allers) umso knalliger. So entstehen choreographisch gezirkelte Bilder von Liebe und Fremdheit. Starke Solitäre, die allerdings
Zeit brauchen, um eine Richtung zu finden. Und nicht immer hält das Bühnengeschehen mit der schwungvoll voraneilenden Sprache Schritt. Der herzbesessen ihrer ersten Liebesnacht herbeisehnenden Julia („Komm in dieser Nacht über mich,zerstampfe,zerfaser,zerstreue mich…“) etwa hätte man mehr Feuer gegönnt.
Der Knoten löst sich nach der Pause. Da entwickelt die Geschichte eine Zwangsläufigkeit zum Tode, die in der Inszenierung Tempo macht und die Bilder zur Gesamtheit fügt. Da entblößt Rainer Jordan den alten Capulet als vulgären Diktator und hilflosen Trottel, zerbröselt Andrea Schönings allzeit eiserne Lady nach dem vermeintlichen Tod ihre Tochter in Hysterie, und Christoph Brüggemann passt Paris, Romeos glücklosen Konkurrenten um Julias Liebe, ein in die Form eines biedermeierlichen Posiealben-Helden.
Wie Romeo und Julia am Ende zum ersten und letzten Mal in freier Entscheidung zusammenkommen, ist dunkel pathetisch und berührend hell zugleich: Ihre Liebe ist ohne den Tod nicht zu haben. Aber sie enthält auch die klitzekleine Hoffnung, dass die Liebe die Fremdheit vielleicht auch aushält.